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Die Stille der Welt hören

26. Oktober 2025 durch
Gaionauten e.V.
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Verborgene Botschaften
Wir sind Wanderer in einer Welt voller Echos, die wir nicht mehr deuten können. Wir haben uns zu Meistern der Analyse entwickelt, zu Architekten eckiger Paläste des Wissens, aus denen wir die Welt sicher, distanziert und seltsam unberührt betrachten. Doch in diesem Prozess der Abstraktion ist etwas verloren gegangen. Die Welt, die einst ein Gegenüber, ein Partner im Tanz des Lebens war, ist zu einem Objekt erstarrt. Ihre Stimmen aus Wind, Wasser, Tier und Pflanze sind zu einem leisen, kaum wahrnehmbaren Rauschen verkümmert. Wir leiden an einer Art „ökologischer Demenz“: Wir wissen alles über die Brüche in unserer Welt, aber wir fühlen sie nicht mehr. Damit ignorieren wir eine fast 200 Jahre alte Mahnung von Alexander von Humboldt. Er forderte 1845 in seinem Werk „Kosmos“, man dürfe nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen. Man müsse sie vielmehr so darstellen, „wie sie sich im Innern der Menschen abspiegelt“
[1]

Genau diese Spiegelung, diese Resonanz zwischen Innen und Außen, haben wir verlernt. Diese schmerzhafte Spaltung von Wissen und Fühlen ist das Erbe eines jahrhundertealten Missverständnisses: der cartesianischen Trennung von Geist und Körper. Und eigentlich hat schon Sokrates damit begonnen. Eine Trennung, die die moderne Hirnforschung längst als überholt entlarvt. Ansätze wie die der „Embodied Cognition“ (verkörperte Erkenntnis) zeigen uns, dass unser Denken, unser Bewusstsein und unsere Gefühle untrennbar mit unserem physischen Körper und seiner Interaktion mit der Welt verwoben sind. Die Demenz ist also keine Metapher, sondern die Beschreibung einer realen Entfremdung von unserer eigenen, fühlenden Natur.

Doch was wäre, wenn wir wieder lernen könnten zu lauschen? Wenn wir die Fähigkeit wiederentdecken würden, die Stille nicht als Leere, sondern als einen Raum voller verborgener Botschaften zu erfahren?

Navigator zwischen den Welten

Um diesen Weg zu beschreiten, braucht es vielleicht eine neue Art von Entdecker. Nennen wir ihn den Gaionauten. Er ist ein Kind zweier Welten. In ihm lebt die Seele des Flaneurs, der aufmerksam durch die urbanen Schluchten der Moderne schlendert, der in den Zwischenräumen des Alltags die verborgenen Muster und Widersprüche unserer Zeit erkennt. Doch zugleich trägt er die Instinkte der Streunerin in sich, die bewusst die Kontrolle aufgibt, sich im Dickicht der Natur verliert, um die Welt nicht zu analysieren, sondern sie unmittelbar zu erfahren. In der Berührung von Rinde, im Geruch feuchter Erde, im Blick eines Tieres.

Der Gaionaut versucht, diese beiden Perspektiven nicht nur zu verbinden, sondern in sich zu einem neuen Zustand zu verschmelzen. Er wird zum lebendigen Ort von Rilkes „Weltinnenraum“. Jenem poetischen Raum, in dem die Grenze zwischen dem eigenen Herzen und der äußeren Welt durchlässig wird. In diesem Zustand ist die Welt nicht mehr nur ein Gegenüber, das wir betrachten. Sie wächst in uns hinein, und wir weiten uns in sie aus: 

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
[2] 

Rilke gibt damit einer tiefen Wahrheit eine poetische Form, die schon Goethe in seinem Gedicht „Epirhema“ fasste:

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen;
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis!
[3] 

Der Gaionaut ist dabei also nicht allein. Er steht in einer langen Tradition, einer Art „Romantik 2.0“ (Andreas Weber). Dabei ist Goethes Position besonders aufschlussreich: Obwohl vor allem als Dichter berühmt, sah er den Kern seines Schaffens in der Wissenschaft. Seine Methode beschreibt der Biologe und Philosoph Andreas Weber treffend als das Verständnis der Natur als einen großen „künstlerischen Offenbarungsprozess“. Dieser Ansatz ist das genaue Gegenteil einer rein analytischen Vorgehensweise. Statt die Natur in ihre Einzelteile zu zerlegen, ging es Goethe darum, durch wiederholte, geduldige und liebevolle Beobachtung und „anschauende Urteilskraft“ die schöpferischen Prinzipien der Natur direkt zu erfahren. Die Wahrheit offenbart sich demnach demjenigen, der sich als Teil des Prozesses begreift. Die Umkehrung dieses Gedankens war für Goethe ebenso zentral: Ein gelungenes Kunstwerk ist keine Kopie der äußeren Natur, sondern selbst ein Produkt ebenjener schöpferischen Kräfte, die auch die Natur hervorbringen. Es offenbart ihre innere Wahrheit auf einer höheren Ebene.[3a] 

Der Gaionaut wandelt zugleich auf den Spuren von Henry David Thoreau, der am Walden-Teich die Zivilisation hinterfragte, um eine tiefere Wahrheit in der Natur zu finden: „Ich ging in die Wälder, weil ich den Wunsch hatte, mit Bedacht zu leben, mich nur den wesentlichen Tatsachen des Lebens auszusetzen und zu sehen, ob ich nicht lernen könnte, was es zu lehren hatte, und nicht, wenn es zum Sterben ginge, entdecken müsste, dass ich nicht gelebt hatte.“[4] Die Mission des Gaionauten ist es daher nicht nur, Verbindungen sichtbar zu machen. Seine tiefste Aufgabe ist es, diese Verwandlung zu ermöglichen: die äußere Welt im Inneren so tief zu empfinden, dass sie zu einem Teil unseres eigenen Seins wird. Er navigiert durch die Netzwerke des Lebens, um den Ort zu finden, an dem Wissen zu Gefühl wird und die Stille der Welt in uns zu klingen beginnt. Für den Künstler Paul Klee war genau diese „Zwiesprache mit der Natur“ eine unverzichtbare Bedingung für Kreativität.[5] Der Gaionaut macht diese künstlerische Notwendigkeit zu einer Lebenshaltung. 

Die Natur antwortet

Wie beginnt man ein solches Lauschen? Es beginnt im Kleinen, in Experimenten, die unsere gewohnten Wahrnehmungsmuster durchbrechen. Stellt euch ein Rendezvous mit einem verschrumpelten Apfel“ vor, wie es in unserem „Resonanz-Labor im Garten“ mit der Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt stattfand. Die Aufgabe war einfach und doch radikal: Diesem Apfel nicht als Objekt zu begegnen, sondern als Gegenüber. Ihn nicht zu bewerten, sondern ihn mit der Frage zu berühren: „Was erfahre ich von dir?“ In diesem Moment der „Verlebendigung“ geschieht etwas Magisches. Es ist die gelebte Philosophie von Andreas Weber, der diesen Prozess als wechselseitige Wahrnehmung beschreibt. Für ihn bedeutet die Berührung der furchigen Haut eines Baumes, immer auch die eigene Berührbarkeit zu erfahren und sich selbst berührt zu fühlen. Die Welt zu sehen, heißt für ihn, die eigene Sichtbarkeit zu erleben und sich von der Welt gesehen zu fühlen.

Genau das geschieht in der Begegnung mit dem Apfel. Die Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem löst sich auf. Es ist nicht mehr nur der Apfel, der Teil meiner Welt wird: Ich werde auch zu einem lebendigen Teil der seinen. Das ist mehr als nur Achtsamkeit! Es ist der erste Schritt in eine dialogische Beziehung, in der die Welt uns antwortet.

​Diese Haltung lässt sich auf größere Zusammenhänge übertragen. Was, wenn nicht nur ein Apfel, sondern ein ganzer Fluss zum Gegenüber wird? Bei einer Systemaufstellung der Spree in Berlin schlüpften Menschen in die Rollen von Anwohnern, Bibern, der Stadt und dem Fluss selbst. Der entscheidende Moment war eine Geste: Als das Gremium, das die Rechte des Flusses vertreten sollte, seine stehende, kontrollierende Haltung aufgab und sich auf Augenhöhe mit der Spree auf den Boden setzte, fand eine Verwandlung statt, „vom Instrument der Macht der Stadt zum Instrument des Flusses.“ Die fundamentale Erkenntnis: Gesetze allein reichen nicht. Es braucht einen tieferen kulturellen Wandel, neue Sprachen und Räume der Begegnung.

In der Organismenrepublik Augsburg geht man noch einen Schritt weiter. Hier wurden über 600 Arten – vom Einzeller bis zum Biber – symbolisch „eingebürgert“. Menschen entscheiden in der Rolle von Gewässerlebewesen über die Zukunft ihrer Stadt. Die Frage „Wie fühlt es sich an, im Augsburger Welterbewasser zu wohnen?“ zwingt zu einem radikalen Perspektivwechsel und legt den Grundstein für eine mehr als nur menschliche Demo- oder besser noch: Biokratie.

Doch ist das mehr als ein poetisches Gedankenspiel? Sprechen wir hier nicht einfach nur mit uns selbst? Ist die Stimme des Flusses nicht bloß eine Projektion unserer eigenen Wünsche und Ängste in eine stumme Natur hinein?

Die Antwort darauf ist ein klares Nein, und den Beweis liefert eine überraschend nüchterne Beobachtung aus der Literatur. Der Schriftsteller Siegfried Lenz, kein Esoteriker, sondern ein Meister der genauen Menschenbeobachtung, fasste es nach dem Studium unzähliger Landschaftsbeschreibungen so zusammen: „daß bestimmte Landschaften identische, und das heißt wiederholbare Gefühle und Stimmungen hervorrufen“.[6]

Die Logik dahinter ist entwaffnend einfach: Wären diese Gefühle reine Projektion, müsste jeder Mensch am Meer, im Wald oder in den Bergen etwas völlig anderes, rein Individuelles empfinden. Da die Erfahrung aber oft verblüffend ähnlich ist (die Erhabenheit der Berge, die Weite des Meeres, die Geborgenheit des Waldes), kann die Ursache nicht allein in uns liegen. Der Ort selbst muss ein aktiver Sender sein, eine Quelle mit einer eigenen, spezifischen Atmosphäre, die mit uns in Resonanz tritt.

Diese Erkenntnis, dass die Welt nicht nur eine passive Leinwand für unsere Seele ist, sondern ein wirkender Partner im Dialog, ist der Schlüssel. Sie öffnet die Tür zu einer tieferen Philosophie des Fühlens.

Fühlen als Kompass

Diese Praxis ist kein Zufall, sie wurzelt in einer tiefen philosophischen Haltung, die uns der Biologe und Philosoph Andreas Weber schenkt. Seine radikale und zugleich heilsame Botschaft lautet: „Alles fühlt“. Dies ist keine esoterische Behauptung, sondern der Kern einer „Biologie der Lebendigkeit“, die anerkennt, dass die gesamte Natur von Empfindungen durchdrungen ist. Vom Einzeller bis zum komplexen Ökosystem. Weber steht damit in einer Tradition, die unsere angeborene Verbindung zur Natur betont. Der Tiefenpsychologe Erich Fromm nannte dies die „Biophilie“: die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen, die er als „biologisch normalen Impuls“ verstand. Der Ökopsychologe Theodore Roszak ging noch weiter und postulierte ein allen Menschen innewohnendes „ökologisches Unbewusstes“, das die Weisheit der Evolution einschließt.[7] Webers Philosophie gibt dieser tiefen Ahnung eine wissenschaftliche und poetische Sprache.

Um diese fühlende Welt zu verstehen, brauchen wir eine andere Form der Erkenntnis, die Weber „poetische Objektivität“ nennt. Sie zielt nicht auf einen rein rationalen, sondern auf einen „verkörperten Beweis“. Eine Wahrheit, die wir im Körper spüren, nicht nur im Kopf verstehen.

Das Herzstück dieser Idee lässt sich in einem Syllogismus zuspitzen, den Weber zur Illustration seiner poetischen Objektivität nutzt:

Menschen sind sterblich.
Gras ist sterblich.
Menschen sind Gras.

Eine Aussage, die den Verstand bewusst stolpern lässt, um direkt das Herz zu treffen. Natürlich ist sie nicht buchstäblich wahr. Aber sie besitzt eine tiefere, „welterschließende Kraft“, weil sie uns unsere fundamentale Verbundenheit spüren lässt: Auch wenn es paradox klingt, findet diese Haltung eine erstaunliche Parallele in den Grenzbereichen unserer eigenen Wissenschaft.[8] Die Quantenphysik lehrt uns seit einem Jahrhundert, dass Beobachter und Beobachtetes untrennbar sind. Der Akt des Messens verändert das Ergebnis. Webers wechselseitige Wahrnehmung wäre quasi eine poetische Entsprechung dieser Verschränkung auf der Ebene des Lebendigen.

Der große Ökologe Aldo Leopold nannte diese Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln, „wie ein Berg zu denken“.[9] Das bededeutet, die tiefen, langfristigen und komplexen Zusammenhänge in einem Ökosystem zu verstehen und über den kurzfristigen, menschlichen Nutzen hinauszublicken. Ein Versuch, das gesamte System als Einheit zu sehen, in der jedes Teil, selbst der Wolf, eine entscheidende Rolle spielt.[10] Es geht um die Erkenntnis, dass wir aus dem gleichen Stoff gemacht sind, die gleiche Luft atmen und dem gleichen Kreislauf von Werden und Vergehen unterworfen sind wie der Grashalm auf der Wiese. Es ist eine Wahrheit, die nicht zerlegt, sondern gefühlt werden will. Eine Erkenntnis, die uns daran erinnert, dass wir nicht Beobachter der Welt sind, sondern ein Teil von ihr, untrennbar, verletzlich und lebendig. 

Diese Verbundenheit ist immer wechselseitig. Weber beschreibt diese Wechselwirkung als eine Form der Spiegelung, bei der die Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem verschwimmt. Einerseits fühlt sich der Mensch von der Welt wahrgenommen und gespiegelt: Er hat das Gefühl, im Blick eines Tieres sehe ihn „das Wasser selbst“[11] an, und diese Erfahrung gipfelt in dem Moment, in dem er im Auge eines Wolfs „nichts als mich selbst: einen einsamen Wanderer in den stummen Bergen“[12] erblickt. Andererseits ist auch das andere Lebewesen kein stummes Objekt, sondern ein Akteur, der seine Geschichte verkörpert. In Anlehnung an Goethes Konzept der „Zeitgestalt“ ist die Form einer Pflanze für Weber die sichtbare Antwort darauf, „wie die Pflanze mit dieser Wunde weiterleben konnte“.[13]

In dieser Begegnung entsteht eine Resonanz, die unsere Wahrnehmung verwandelt. Ein aktiver, körperlicher Prozess, den Weber als „leiblich-organismische Bewegung“[14] bezeichnet. Der starre Gegensatz von Innen und Außen beginnt sich aufzulösen, und es entsteht jener poetische Zustand, den Rainer Maria Rilke den „Weltinnenraum“ nannte. Das Ergebnis dieser tiefen, verkörperten Erfahrung ist, dass sich das Subjekt nicht mehr als getrennter Beobachter fühlt, sondern als integraler, eingeerderter Teil des Raumes, mit dem es untrennbar verbunden ist. Diese Philosophie ist die Brücke, die wir suchen. Sie erlaubt uns, vom distanzierten Wissen zum fühlenden Handeln zu gelangen, weil sie uns daran erinnert, dass wir selbst Teil dieses großen, atmenden und fühlenden Gewebes sind.

Jan Hüfner

https://www.transformatorenwerk-leipzig.de/events/matinee-stille.html

[1] nach Jung, Naturverständnis und Psychotop, 2018, S. 1

[2] https://rilke.de/gedichte/es_winkt_zu_fuehlung.htm

[3] nach Jung, Naturverständnis uns Psychotop, 2018, S. 4

[3a] Weber, Enlivement, S. 81

[4] Thoreau, Walden oder: Leben in den Wäldern, 1854

[5] nach Jung, Naturverständnis und Psychotop, 2018, S. 2

[6] nach Jung, Naturverständnis und Psychotop, 2018, S. 10

[7] nach Jung, Naturverständnis und Psychotop, 2018, S. 6

[8]  Weber, Enlivement, S.45 nach Gregory Bateson

[9] Leopold, Aldo (2019). Wie ein Berg denken. In: Ein Jahr im Sand County (S. 131-135)

[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Thinking_like_a_mountain

[11] Weber, Alles fühlt, S. 26

[12] ebenda, S. 134

[13] ebenda, S. 84 f.

[14] Weber, Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie, 2014, S. 24

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