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Wenn Flüsse eine Stimme haben...

6. Juni 2025 durch
Gaionauten e.V.
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Systemaufstellung als Schwellenraum

Was würde passieren, wenn wir Flüssen Rechte verleihen? Und noch wichtiger: Was geschieht mit unseren Beziehungen zueinander, wenn wir diese Flüsse nicht mehr vorrangig als Ressource, sondern als Mitwesen betrachten? Ein bemerkenswerter Versuch im Berliner Kulturzentrum SPORE hat gezeigt, wie kraftvoll - und herausfordernd - es sein kann, die Grenzen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren aufzulösen.

Am 31. Mai 2025 fand ein faszinierendes Experiment statt: Eine Systemaufstellung zu den Rechten der Spree, organisiert vom Netzwerk Rechte der Natur e.V., in dem wir uns als Gaionauten engagieren. Was als methodisches Experiment begann, entwickelte sich zu einem tieferen Einblick in die Komplexität unserer Beziehungen zur lebendigen Mitwelt – und zu einem eindrucksvollen Beispiel dafür, was partizipative Zukunftsgestaltung bedeuten kann.

Zwischen Status Quo und Transformation

Einige der Teilnehmer schlüpften in die Stellvertreter-Rollen verschiedener Akteure: als Spree selbst, als Stadt Berlin, als Anwohner und Besucher, Biber, Rotfeder, als Touristenschifffahrt und – in der Zukunftsvision – ein Gremium, das die Rechte der Spree vertritt, welche hier fiktiv per Gesetz zum Rechtssubjekt mit eigenen Rechten erklärt wurde. Was sich entfaltete, war ein vielschichtiges Drama der Beziehungen, Machtstrukturen und ungenutzten Potenziale.

Der entscheidende Moment trat ein, als das die Rechte der Spree überwachende Gremium ganz plötzlich seine Position wechselte – von der stehenden, kontrollierenden Instanz hin zur sitzenden, auf Augenhöhe mit der Spree agierenden Vertretung. „Da hat die Verwandlung stattgefunden“, so ein Teilnehmer, „vom Instrument der Macht der Stadt zum Instrument des Flusses.“ 

Genau solche Augenblicke sind es, die als transformative Übergänge wirken – Momente, in denen neue Möglichkeiten aufblitzen und festgefahrene Muster durchbrochen werden können.

Parlament der „Dinge“ wird Realität

Was hier experimentell erprobt wurde, entspricht der Vision hin zu einem „Parlament der Dinge“, wie es Bruno Latour einst erdachte und wie wir es für immersiv-interaktive Erfahrungen mit unserer jeweils lokalen Mitwelt weiterentwickeln wollen. Die Idee: Nicht nur Menschen haben eine Stimme in demokratischen Prozessen, sondern auch die nicht-menschlichen Akteure unserer Mitwelt.

In der Aufstellung wurde deutlich, wie kraftvoll – aber auch wie komplex – eine solche Erweiterung der Demokratie hin zu mehr-als-menschlichen, biokratischen Entscheidungsprozessen sein kann. Die Spree saß still auf dem Boden, repräsentierte eine jahrtausendealte Weisheit und Beständigkeit. Um sie herum arrangierten sich die menschlichen Akteure stehend in ihren gewohnten Machtstrukturen, zerrissen zwischen Verantwortung und Eigeninteressen:

„Ich hatte zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, dass der Fluss Rechte hatte“, reflektierte eine Teilnehmerin: „Die Spree hatte doch überhaupt keine Rechte, die war doch eigentlich geradezu gar nicht da.“ Diese schmerzhafte Erkenntnis zeigt, wie tief unsere anthropozentrischen Denkmuster verwurzelt sind.

Navigation zwischen den Welten

Die Teilnehmenden wurden zu dem, was wir „Gaionauten" nennen – Menschen, die zwischen verschiedenen Perspektiven und Realitäten schweben. Sie erlebten am eigenen Leib, was es bedeutet, aus der Sicht eines Bibers zu denken, der „die natürlichen Flusshüterinnen“ verkörpert, oder als Rotfeder, die Angst vor den lärmenden Motorschiffen verspürt.

Eine Teilnehmerin, die die komplexe „Stadt Berlin“ vertrat, berichtete: „Ich fühle mich schon auch verantwortlich für das Ganze. Ich bin für alle zuständig.“ Gleichzeitig verspürte sie eine „sehr, sehr tiefe Sehnsucht, auf diese Ebene zu kommen“ - zur Spree, zu den nicht-menschlichen Wesen auf dem Boden.

Das Bewusstwerden dieser Zerrissenheit zwischen Macht und Sehnsucht, zwischen Kontrolle und Verbundenheit, ist ein Schlüssel zum Verständnis unserer ökologischen Krise. Und zeigt, warum neue Formate des Dialogs und der Partizipation dringend nötig sind. Besonders aufschlussreich war die Beobachtung, dass sich trotz der rechtlichen Veränderung – dem fiktiven Gesetz für die Spree – die grundlegenden Dynamiken kaum veränderten.

„Das Gesetz hat nicht den Bewusstseinswandel erzeugt, den es gebraucht hätte“, fasste ein Teilnehmer zusammen. Deutlich wurde: Rechte allein, zumindest so, wie wir sie verstehen, beziehen sich hauptsächlich auf die rationale Ebene. Um wirklich berührt zu werden, brauchen wir erweiterte Rahmenbedingungen, die auch die emotionale und körperliche Ebene einbinden. Vielleicht können indigene Kulturen, die nie die Verbindung zur lebendigen Welt verloren haben, hier wichtige Impulse geben? Eine Art Entwicklungshilfe von Süd nach Nord?

Diese Erkenntnis ist fundamental: Rechtliche Instrumente allein reichen nicht aus. Es braucht einen tieferen kulturellen Wandel, neue Formen der Kommunikation und, wie eine Teilnehmerin formulierte: „Räume, Dialogräume, in denen wir eine andere Sprache als unsere nutzen. Um dem Resonanzraum dazwischen, mit seinen Schwingungen und Vibrationen, eine neue Sprache zu geben.“ Genau hier setzen immersive Technologien, partizipative Methoden und ein ganzheitlicher Ansatz an, der Kopf, Herz und Körper gleichermaßen berührt.

Zukunftsvisionen aus magischen Experimentierräumen

Stellen wir uns vor, diese Systemaufstellung hätte in einer Fulldome-Umgebung stattgefunden - in einem immersiven 360°-Raum, der die Teilnehmenden buchstäblich in das Ökosystem Spree eintauchen lässt. Echtzeitdaten von Sensoren im Fluss könnten die „Stimme" der Spree hörbar machen, Visualisierungen die Auswirkungen verschiedener Entscheidungen sichtbar werden lassen. Doch birgt dieser Ansatz nicht die Gefahr eines digital-fortschrittsgläubigen "Weiter so!"? Oder könnte er tatsächlich helfen, destruktive Gewohnheiten in eine neue, nachhaltige Lebensweise zu transformieren?

Was in der Berliner Aufstellung deutlich wurde, spiegelt sich in vielen Zukunftsprojekten wider: Der Übergang von individueller zu kollektiver Intelligenz: „Es ging nur durch Kommunikation“, erkannte eine Teilnehmerin, „dass es irgendwann mit Geduld so weit kommt, dass es allen bewusst ist.“ Diese Kommunikation braucht neue Räume, neue Sprachen, neue Methoden. Sie braucht Experimentierräume für eine nachhaltige Zukunft, in denen Menschen und ihre Mitwelt in lebendigen Austausch treten können.

Von starren Mustern zu lebendigen Beziehungen

Die Systemaufstellung zeigte schmerzhafte Wahrheiten auf: Die Starrheit unserer Rollenverteilungen, die Schwierigkeit echten Perspektivwechsels, die Herausforderung, Macht zu teilen. Aber sie zeigte auch Hoffnung: „Es gab zu keinem Zeitpunkt eine Diskussion darüber, ob die Spree und der Biber und die Rotfeder aufstehen sollten. Der Diskurs war ganz klar: Da unten ist die Weisheit, die Wahrheit, das gute Leben, die Verbindung.“

Dies ist der Anfang eines Bewusstseinswandels. Genau hier können neue Formate anknüpfen: Mit Methoden, die nicht nur über Veränderung sprechen, sondern sie fühlbar, erfahrbar machen. In der Natur selbst, aber auch mit Technologien, die nicht von der Natur entfremden, sondern neue Verbindungen schaffen. Mit Ansätzen, die von problemfixierten Denkschleifen zu kreativen Lösungsräumen führen.

„Ich bin die Spree, die Spree ist ich“, sagte ein Teilnehmer zum Abschluss. Diese einfachen Worte fassen zusammen, worum es geht: Um eine neue Beziehung zur Welt, die von Verbundenheit statt von Abgrenzung geprägt ist. Das Experiment in Berlin war ein Anfang. Es hat gezeigt, dass wir neue Formate brauchen und eigentlich schon haben, um die drängenden Fragen unserer Zeit nachhaltig zu bearbeiten. Es braucht Experimentierräume für eine Zukunft, in der Menschen und ihre Mitwelt gemeinsam gedeihen können.

Die Zeit ist reif für weitere Experimente. Die Zeit ist reif für mehr Resonanz.

Jan Hüfner

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