Am 1. März 2025 fand auf der Brechtbühne in Augsburg ein bemerkenswertes biokratisches Experiment statt: Der "1. Volksentscheid der Lebewesen". Die Veranstaltung der Organismenrepublik Augsburg gab 160 Menschen die Möglichkeit, in die Rolle von Gewässerlebewesen zu schlüpfen und aus deren Perspektive über die Zukunft des Welterbes der Wasserstadt Augsburg zu entscheiden.
Mehr als menschliche Demokratie
Die grundlegende Frage der Veranstaltung war so einfach wie revolutionär: Warum orientieren sich politische Entscheidungen ausschließlich an menschlichen Bedürfnissen? In der Organismenrepublik Augsburg, deren "Staatsgebiet" sich in den Roten Tor-Wallanlagen befindet, wurden bereits vor zwei Jahren über 600 Arten – vom Einzeller bis zum Biber – gleichberechtigt eingebürgert. Es wurde eine Verfassung verabschiedet, ein Parlament hat getagt und erste Entscheidungen wurden umgesetzt.
Der Volksentscheid bildete nun den Höhepunkt eines mehrjährigen demokratischen Experiments, bei dem die Teilnehmenden über die Dringlichkeit von vier konkurrierenden Vorschlägen zur Zukunft des Welterbes abstimmten:
- Demokratische Evolution mit Machtverteilung auf alle Spezies (vertreten durch Laichkraut und Brennnessel)
- Akzeptanz einer "heilsamen Katastrophe" durch den drohenden Lechsoldurchbruch (Armleuchteralge und Cyanobakterium)
- Stadterweiterung durch Biber und Dezentralisierung der Abwasseraufbereitung (Biber und Bakterienvirus Lambda)
- "Weiter so" mit Verweis auf bestehende Erfolge im Landschafts- und Artenschutz (Grauerle und Mühlkoppe)
Perspektivwechsel als demokratische Praxis
Was auf den ersten Blick wie ein künstlerisches Experiment wirken mag, entpuppte sich als tiefgründige Übung in demokratischer Bewusstseinserweiterung. Die Teilnehmenden wurden durch den Perspektivwechsel gezwungen, ihre anthropozentrischen Sichtweisen zu hinterfragen und die Bedürfnisse anderer Lebewesen ernst zu nehmen.
Besonders beeindruckend war die gründliche Vorbereitung: In Workshops wurden die ökologischen Zusammenhänge der Augsburger Gewässersysteme erarbeitet und Vertreterinnen für verschiedene Arten bestimmt. Die mehrjährige Entwicklung der Organismenrepublik – von der verfassungsgebenden Versammlung 2023 über das erste Parlament der Lebewesen bis hin zum Gerichtsprozess der Biber 2024 – zeugt von einem durchdachten Konzept, das politische Bildung mit ökologischem Bewusstsein verbindet.
Planetarium als Multispezies-Parlament?
Die Veranstaltung stellte grundlegende Fragen: Wie fühlt es sich an, im Augsburger Welterbewasser zu wohnen? Was bedeutet es, den Lech zu befreien? Wer bestimmt, was das Wasser darf und was es leisten muss?
Diese Fragen führen uns zurück zu einem der Kerngedanken unseres Resonanz-Labors: der Erkenntnis, dass wir unsere Mitwelt und uns selbst nicht mehr wie bisher als getrennte Wesen betrachten dürfen.
Angesichts dieser inspirierenden Veranstaltung stellt sich uns darüber hinaus die Frage: Wie würde sich dieser Ansatz im immersiv wirkenden Planetarium als einem biokratischen Parlament darstellen, wenn wir die Natur über künstlerisch verarbeitete Sensor- und Satellitendaten mehr oder weniger selbst zu Wort kommen lassen könnten?
Im Planetarium könnten wir die Übersetzungsleistung, die bei der Organismenrepublik noch durch menschliche Vertreter erfolgt, zumindest teilweise direkt durch Echtzeitdaten ersetzen. Die Temperatur- und Strömungsdaten eines Flusses, der CO2-Gehalt eines Waldes, die Bewegungsmuster von Tierpopulationen – all diese Daten könnten im immersiven Raum des Planetariums in Klänge, Bilder und Bewegungen übersetzt werden, die unmittelbar erfahrbar machen, wie es diesen Lebewesen und Ökosystemen "geht". Wäre das nicht eine weitaus spannendere und wirksamere Weise, sich in andere Lebewesen hineinzuversetzen, um sie besser zu verstehen?
Der große Vorteil dabei wäre:
- Unmittelbarkeit: Statt nur über Vertretungen zu arbeiten, könnten tatsächliche Live-Daten die Basis für Entscheidungen bilden. Die nichtmenschlichen Lebewesen könnten sich also mehr oder weniger direkt äußern und "selbst" basisdemokratisch abstimmen.
- Maßstabswechsel: Von der mikroskopischen Ebene der Bakterien bis zu lokalen oder gar globalen Klimamustern – alles könnte einbezogen und visualisiert werden.
- Dynamik: Die ständige Veränderung natürlicher Systeme würde auch in seiner inneren und äußeren Wechselwirkung sichtbar und könnte die oft statischen menschlichen Entscheidungsprozesse herausfordern.
- Emotionale Tiefe: Die immersive Erfahrung würde nicht nur kognitiv, sondern auch emotional wirken und damit tiefere Resonanzen erzeugen.
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Eine solche Verschränkung der künstlerisch-politischen Arbeit der Organismenrepublik mit den Möglichkeiten moderner, sogar interaktiver Fulldome-Technologien könnte einen beeindruckenden Resonanzraum schaffen – ein wahrhaftiges biokratisches Parlament, in dem nicht mehr nur über die Natur gesprochen wird, sondern in dem die Natur selbst – vermittelt durch Technologie und künstlerische Übersetzung – eine Stimme erhält.
Die Demokratie der Zukunft braucht genau solche innovativen Ansätze, um die vielfältigen Krisen unserer Zeit zu bewältigen. Der 1. Volksentscheid der Lebewesen in Augsburg hat gezeigt, dass ein anderes demokratisches Bewusstsein möglich ist. Im Resonanz-Labor freuen wir uns darauf, derartige Impulse aufzugreifen und weiterzuentwickeln.
Jean-Claude Sonnet
siehe auch: https://organismendemokratie.org/wo/augsburg-wallanlagen
Foto: Jan Hüfner