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Über die Kunst, unsere (Mit-)Welt zu verstehen

1. Juli 2025 durch
Gaionauten e.V.
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Erfahrungsbericht vom "Erdfest-Resonanz-Labor"

An einem sonnigen Nachmittag im Juni, im Rahmen der bundesweiten Erdfest-Bewegung, wurde unser Format „Resonanz-Labor im Garten“ zum Schauplatz eines stillen Abenteuers. In der Mitte unserer Runde lagen für alle Teilnehmer alte, in sehr verschiedenen Stadien verschrumpelte Äpfel. Sie waren unsere Gäste, Lehrer, eine Herausforderung.

Die Einladung der Kulturwissenschaftlerin Dr. Hildegard Kurt war so einfach wie tiefgreifend: Wir sollten einem Apfel begegnen, nicht als Objekt, sondern als Gegenüber. Mit der Frage: "Was erfahre ich von dir?" sollte ein Prozess der "Verlebendigung" beginnen, eine bewusste Anstrengung, den "Firnis unseres Gewohnheitsblicks", wie es der Philosoph Hartmut Böhme nennt, zu durchdringen.

Das Einfache, das schwer zu fühlen ist

Doch das ist leichter gesagt als getan. Sich auf eine solche Begegnung einzulassen, bedeutet, die vertrauten Muster des Analysierens, Etikettierens und Bewertens loszulassen. Es ist ein Ringen mit dem eigenen Verstand, der sofort wissen will: Was soll das? Was sehe ich da? Was soll ich da sehen? Genau diese kritische Selbstreflexion ist ein wesentlicher Teil des Prozesses. Eine Teilnehmerin brachte diese Ambivalenz auf den Punkt: War es wirklich der Apfel, der zu ihr "sprach", oder war es nicht vielmehr ihre eigene, innere Resonanz, die durch die konzentrierte Hinwendung bewusst wurde?

Diese Frage führt uns ins Herz dessen, was wir als Gaionauten erforschen. Vielleicht löst sich in dieser tiefen Begegnung die starre Grenze zwischen einem "Ich" und einem "Du", zwischen Beobachter und Beobachtetem auf. Vielleicht ist die "Stimme" der Welt kein externes Signal, sondern erwacht erst in der Qualität unserer Beziehung zu ihr. In dem Moment, in dem es uns gelingt, unser Sehen zu "ent-automatisieren", kann das Wunder geschehen: Das "Es" wird zum "Du".

Für einige in der Runde manifestierte sich dies in einer fast greifbaren Erfahrung. Eine Teilnehmerin beschrieb eine spürbare Wärme, einen Energiestrom, der von dem Apfel in ihrer Hand ausging. Ein Besucher spürte eher eine angenehme Kühle im Zentrum seiner Handfläche und einen vertrauten Geruch seiner Kindheit. Aus dem leblosen Objekt wurde eine Präsenz, die einen sorgsamen, fast liebevollen Umgang einforderte. Der Apfel wurde zum Wesen.

Der ganze Garten saß mit uns in der Runde

Und mit ihm erwachte der ganze Garten. Eine andere Teilnehmerin beschrieb, wie ihr Blick sich vom Apfel löste und die majestätischen Bäume, die uns umgaben, in die Begegnung mit einbezog. Sie nahm die Gleichzeitigkeit der Prozesse wahr – die letzten Blüten an einem Strauch, während daneben schon die ersten Himbeeren reiften. Der Garten saß mit uns in der Runde, wurde selbst zum Akteur und erzählte von den faszinierenden Spuren der Zeit. "In diesem Moment dehnte sich die Zeit, ein Gefühl von Stille, Frieden und tiefer Verbundenheit stellte sich ein.", wie eine Teilnehmerin artikulierte.

Am Ende dieses persönlichen Prozesses haben wir uns diese Erkenntnisse gegenseitig mitgeteilt und die Quintessenz als Erfahrung für alle „in die Mitte gelegt“, was eine Teilnehmerin als eine transformierte Erkenntnis-Erfahrung auf einer Meta-Ebene bezeichnete. Es ging nicht darum, eine Meinung zu teilen, sondern eine Essenz, eine gefühlte Wahrheit, die aus der Begegnung destilliert wurde. Sätze wie „Reife hat Struktur“, "Struktur schafft Harmonie", "Altern kann schön sein" oder "Du bist ein Kunstwerk, für das man keine Worte finden kann" sind keine bloßen Beschreibungen. Genauso wie: „Wir müssen über die Perfektion hinausgehen.“ Das sind Resonanz-Angebote an die Gruppe, verdichtete Erlebnisse, die eine neue, eine gemeinsame Wirklichkeit schaffen können.

Eine neue Sprache für ein neues Denken...

Diese Praxis ist für uns mehr als eine Übung in Achtsamkeit. Sie ist ein fundamentaler Baustein für eine neue Kultur des Miteinanders. Wir leben in einer Welt, deren Sprache und Denken auf Trennung und Objektivierung beruht. Wir sprechen von "Ressourcen", "Rohstoffen" oder "Humankapital" und machen damit die lebendige Welt zu einem Lagerhaus von Dingen. Die Entwicklung einer neuen Sprache, die das Relationelle und Lebendige in den Vordergrund stellt, ist keine weltfremde Gedankenspielerei, sondern eine Notwendigkeit. Es geht um die Schaffung eines relationalen Commons – eines geteilten Verständnisses von Verbundenheit.

Diese Praxis schult eine Fähigkeit, die wir Konnektive Intelligenz (oder kurz auch „KI“?) nennen: die Intelligenz, die nicht im isolierten Individuum, sondern im Raum zwischen den Wesen entsteht. Es ist die Fähigkeit, Beziehungen wahrzunehmen, zu deuten und verantwortungsvoll zu gestalten. Diese Konnektive Intelligenz ist die Voraussetzung für jede Form von Biokratie oder ein "Parlament der Dinge". Denn bevor wir der Natur eine Stimme geben, müssen wir lernen, ihr überhaupt erst einmal zuhören zu können.  Andernfalls verhallt die Stimme der Mitwelt ungehört und wird im Echo unserer alten, linearen Logik erneut zum stummen Objekt.

Unser Rendezvous mit dem Apfel hat uns gezeigt: Nicht nur er allein, sondern die ganze Welt spricht unentwegt. Zu uns! Sie wartet geduldig darauf, dass wir endlich (wieder) präsent werden. Ein herzliches Dankeschön an Dr. Hildegard Kurt und alle, die sich auf diese anspruchsvolle und zutiefst bereichernde Expedition eingelassen haben.

Jan Hüfner

Foto: Rebecca Gasson

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