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Im Loslassen verbunden sein

16. November 2024 durch
Im Loslassen verbunden sein
Gaionauten e.V.
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Zum 400. Todestag des Philosophen und Mystikers Jacob Böhme

Der Görlitzer Schuhmacher Jacob Böhme zählte zu den tiefgründigsten Denkern seiner Zeit. Für Böhme ist „das Göttliche“ eine dynamische Einheit, die alle Gegensätze in sich vereint: Licht und Dunkel, Gut und Böse, Freude und Leid sind für ihn keine absoluten Gegensätze, sondern Aspekte eines größeren Ganzen. Er verstand Krisen und Leiden nicht als sinnlose Qualen, sondern als notwendige Durchgangsstationen zur Erkenntnis. Die "dunkle Nacht" ist für ihn der Geburtsort eines neuen Bewusstseins. Seine Philosophie lebt vom Paradox: Das Höchste zeigt sich im Niedrigsten, die tiefste Weisheit im Einfachen, die stärkste Verbindung im Loslassen. Diese Denkweise überwindet die üblichen Dualismen.

Sein Verständnis von Liebe geht weit über emotionale Zuneigung hinaus. Er sieht sie als kosmische Kraft, die durch Akzeptanz und Hingabe wirkt, nicht durch Kontrolle und Besitz. Diese Grundgedanken machen Böhme gerade heute wieder aktuell. In einer Zeit der Polarisierung und Spaltung zeigt er Wege zur Überwindung scheinbar unversöhnlicher Gegensätze - sei es in persönlichen Beziehungen oder gesellschaftlichen Konflikten. Ein Beispiel: Die schmerzhafte Erfahrung der Eltern-Kind-Entfremdung trifft heute - neben den betroffenen Kindern - mehr oder weniger noch viele Väter, aber auch Mütter nach Trennungen.

Böhmes Kernbotschaft ist radikal: Gerade im Loslassen entsteht die tiefste Verbindung. Seine "gelassene Liebe" ist keine passive Resignation, sondern eine transformierende Kraft. Sie bedeutet:

  • Das Ego überwinden: Solange wir unsere Kinder als "Besitz" betrachten, verschärfen wir die Trennung. Die gelassene Liebe überwindet das besitzergreifende Ich mit seinen Verletzungen und Ansprüchen. Sie öffnet einen Raum echter Begegnung.
  • Den Schmerz annehmen: Statt gegen die Situation anzukämpfen, lädt Böhme uns ein, den Schmerz als Transformationsweg anzunehmen. Die "dunkle Nacht der Seele" kann zu neuem Bewusstsein führen. Das Leiden selbst wird zum Katalysator inneren Wachstums.
  • Eine neue Art der Liebe entdecken: Jenseits von Kontrolle und Haben-Wollen entsteht eine bedingungslose Liebe. Sie strahlt zum Kind, auch über Distanz. Sie bleibt präsent und zugewandt, unabhängig von äußeren Umständen.
  • Vertrauen entwickeln: Die gelassene Liebe vertraut einem tieferen Sinn. Sie akzeptiert die gegenwärtige Situation, ohne innerlich zu resignieren. Gerade im Annehmen dessen, was ist, kann Heilung beginnen.

Diese Weisheit Böhmes erinnert uns: Auch wenn äußere Bindungen zerbrechen, bleibt eine tiefere Verbindung bestehen. Sie zu entdecken, ist vielleicht die eigentliche Aufgabe in der Krise einer Entfremdung. Für Trennungseltern heute bedeutet das: Die verfügbare Zeit mit dem Kind qualitativ nutzen, ohne Vorwürfe oder Groll. Die Krise als Chance sehen, eine reifere Form der Elternliebe zu entwickeln. Eine Liebe, die - paradoxerweise - gerade im Loslassen ihre größte Kraft entfaltet.

Gelassene Liebe in der totalen Entfremdung?

Doch was bedeutet dieser Ansatz konkret für Eltern, die vollständig vom Kontakt zu ihren Kindern abgeschnitten sind? Wie kann "Loslassen" wirken, wenn scheinbar nichts mehr zu lassen ist? Böhmes Ansatz erscheint hier unglaublich provokant: Gerade die totale Entfremdung kann zum "Feuerofen" tiefster Wandlung werden. Dies bedeutet konkret:

  • Die innere Verbindung zum Kind täglich pflegen - nicht als Festhalten, sondern als bewusstes Segnen und Freigeben
  • Jeden Impuls zu kämpfen in Segen verwandeln
  • Eine neue Identität entwickeln, jenseits der Opferrolle
  • Das Kind geistig-seelisch vollständig freigeben, ohne dabei die Liebe zu ihm zu verlieren

Systemische Perspektiven

Aus systemischer Sicht könnte Böhmes radikaler Ansatz erstaunliche Wirkungen entfalten: Wenn ein entfremdeter Elternteil sich derart grundlegend wandelt, verändert dies das gesamte Beziehungssystem. Entfremdende Elternteile verlieren ihr "Feindbild", Kinder spüren eine neue Qualität der Präsenz. Wo der Kampf aufhört, wird echte Begegnung eher möglich. Dies wirkt als "paradoxe Intervention": Gerade durch völliges Loslassen kann neue Anziehung entstehen. Das System erhält die Chance, sich neu zu organisieren. Dieser Ansatz gelingt aber nur authentisch, wenn also die Überwindung der realen Trennung nicht zur vorausgesetzten Hoffnung wird.

Chancen und Grenzen

Der vorgeschlagene Weg ist extrem anspruchsvoll und ohne Unterstützung kaum zu erreichen. Er ersetzt nicht rechtliche Schritte und therapeutische Unterstützung. Er ist keine Garantie für äußere Veränderung. Aber er bietet die Chance für tiefgreifende persönliche Transformation. Die Krise wird zum Katalysator inneren Wachstums. Und vielleicht entsteht gerade so - jenseits aller Erwartung - neue unmittelbare Verbindung. In jedem Fall würde der oder die Betroffene einen wichtigen Beitrag leisten, das Kind zumindest stärker in den Mittelpunkt zu stellen und damit trotz Abwesenheit dennoch in der Lage zu sein, einen wichtigen erzieherischen Anteil zu leisten. Und hält sich fit und bereit für den Moment, an dem echte Begegnung endlich möglich ist. So verrückt das in den Ohren von Betroffenen zunächst klingen mag

Claude Sonnet, Jan Hüfner

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