Wie ein schwedischer Klarinettist seine alte mazedonische Heimat neu interpretiert - Ein Weihnachtsspecial
Der mazedonisch-schwedische Klarinettist Blagoj Lamnjov (Künstlername: „Blago J“), ausgebildet in Schweden, den USA und Mazedonien, unternahm seine erste Konzerttournee im Alter von 13 Jahren. Inzwischen gab er Gastspiele in halb Europa sowie in China, Japan, den USA und Kanada. Er lebt in Schweden und hat dort für einige der großen Orchester und Akademien gearbeitet.
Kurz vor Ausbruch der Pandemie gibt er sein Debüt-Album „Nostalgic Love“ heraus und stellt Auszüge daraus als Solist mit dem Norrköping Symphony Orchestra vor. Auch sein zweites, gerade erschienenes Album „Nostalgic Love 2“ ist wieder vom großen Schatz der mazedonischen Volkslieder inspiriert, den er mit der Eleganz des klassischen deutschen Klarinettenspiels auf besondere Weise verknüpft. Mit dem Versuch, sich in seiner Sehnsucht nach der alten Heimat selbst zu helfen, unterstützt er uns dabei, die Identität und Perspektive Europas etwas breiter, menschlicher zu fühlen.
Eine Entscheidung fürs Leben
Wenn einer an den Wegkreuzungen des Balkans geboren wird, in einem Schmelztiegel der Kulturen, mit seinen fragilen ethnischen und religiösen „Sollbruchstellen“, dann wird er wohl von Anfang an mit besonderen Ausdrucksformen konfrontiert: Mit höchst sinnlichen, sehnsuchtsvollen Liedern, welche die unterdrückten Leiden im nationalen Bewusstsein widerspiegeln. „Die mazedonische Musik verströmt den Duft des Orients – hier entstand eine der mächtigsten Verbindungen zwischen der europäischen und der asiatischen Musik“, die sich bis heute „in den Liturgien der orthodoxen mazedonischen Kirche wie in der Volksmusik der Mazedonier und Türken, der Albaner und Roma“ wiederfindet. (Cartwright S. 98ff.)
Wenn jemand in einer Familie heranwächst, in der Musik eine fast schon religiöse, lebenserhaltende Erfahrung ist, dann wird er irgendwann ganz selbstverständlich dieses Familienerbe weitertragen. Der Großvater spielt die Gajda, ähnlich dem Dudelsack. Der Vater begleitet mit seiner wunderschönen Stimme die Tradition im regionalen Umfeld. Und die Mutter lässt ihre Kinder die musikalischen Strömungen der Umgebung übers Radio wie Muttermilch in sich einsaugen. „Blago J“, entscheidet sich für die in der Hochzeitssaison zwischen Akkordeon und Basstrommel so dominierende Klarinette mit ihrem schrill-quiekenden, ornamentverwöhnten Sound.
Blago J: „Mein älterer Bruder spielte Klarinette. Er war mein Idol, mein König, mein Ein und Alles während meiner Kindheit und Jugend. Auch heute noch: Wenn jemand das Wort ‚Klarinette‘ ausspricht, ist meine erste Assoziation mein Bruder. Mit neun Jahren wollte ich dieses Instrument selbst spielen, während mein 15-jähriger Bruder mir alles erklärte, was er über die Klarinette wusste.“
Er wird süchtig nach diesem Instrument, dem Musizieren. Beschließt bald, sein Leben ganz der Musik zu widmen. Mit 13 Jahren gibt er seine ersten Konzerte mit Folkloreensembles. Seit seinem 15. Lebensjahr tourt er bereits nahezu jedes Wochenende in der sommerlichen Hochzeitssaison von früh bis spät mit seinen Lehrern durch die Lande. Verdient sein erstes Geld. Hochzeiten werden geliebt, dort wird jene Musik gespielt, die die einfachen Menschen brauchen, um zu überleben. So verwundert es nicht, wenn dieses kleine Land so viele geniale Musiker hervorbringt. Blagoj ist zu dieser Zeit einer der vielen „Jünger“ der Klarinetten-Legende der Tito-Ära, Tale Ognenovski. Sie spielen bis heute ihre ungewohnt wilden, schlängelnden Tonfolgen – faszinierend-rasant – mit für uns recht irregulär empfundenen Rhythmen. Aber oft ohne echte Seele. Während Roma-Künstler, wie der geniale Klarinettist Ferus Mustafov, ihre Hörer wie mit einem „klanglichen Narkotikum“ (Cartwright S. 132) verführen.
Aus der Sehnsucht formt sich eine neue musikalische Ausdrucksweise
Aber Blagoj will weiter. Er ist 21 Jahre, voller Lust zu lernen, zu wachsen. Mazedonien ist zu klein, es muss eine große Welt her. Als sein brüderliches Idol familiäre Bande nach Schweden knüpft, verlegt er 2004 sein Musikstudium von Skopje nach Malmö. Er weiß um die Fähigkeiten und Talente der Mazedonier. Aber in Schweden begegnet ihm etwas, was er in seiner Heimat vermisst. Die schwedische Mentalität zieht ihn an, diese moralische, empathische Nation voller Würde, Geduld, Verantwortung. Sein neuer Lehrer, Anders Åberg, Solo-Klarinettist am Malmö Opera Orchestra, wird in dieser herausfordernden Zeit neben seinem Bruder sein zweites Idol. Er macht ihn nicht nur zu einem besseren Musiker, sondern auch zu einer besseren Persönlichkeit. Und er erarbeitet mit ihm konsequent einen neuen Klang in der Tradition der klassischen deutschen Klarinette.
Blago J: „Ich spielte falsch, als ich nach Schweden kam. Mein Lehrer brachte mir bei, wie ich die Noten sensibel beginne, auf wunderbare Weise verbinde, wie ich die Phrasen mit unterschiedlicher Dynamik setze, wie ich aus einer einzigen langen Note richtig gute Musik mache. Das Schwierigste war für mich, langsame klassische Melodien glatt und schön zu spielen. Jede Note sollte lebendig sein und brauchte eine klare Richtung zur nächsten Note. Jede Note ist lang und ich musste bei allen die gleiche Intensität beibehalten.“
Der Wechsel von einer Note zur anderen muss sehr reibungslos erfolgen. Die Luft ist für ein kontrolliertes Blasen das Wichtigste. Bei schnellen Folk-Melodien ist es viel einfacher und es kann an einigen Stellen „geschummelt“ werden. Das heißt, einige Töne werden so schnell gespielt, dass keiner mitbekommt, wenn sich zur Erleichterung der Grifffolgen falsche darunter befinden. Genauso wenig muss besonders auf Atmung oder Spieltechnik geachtet werden. Er beginnt zu erkennen, wie wichtig jede Note ist. Kein Schummeln, kein Hetzen zur nächsten. Jede Note muss sehr geduldig, leidenschaftlich gespielt werden. Er soll selbst in den sehr hohen Tönen einen dunklen, runden, satten Sound erzeugen. Um derart spielen zu können, gibt ihm sein Lehrer sehr langsame, langweilig empfundene Stücke, die sich zunächst sehr schwierig spielen lassen. Viele davon stammen von dem berühmten deutschen Klarinettisten Carl Baermann oder aber von seinem Lehrer selbst.
Fern von der Heimat träumt er in dieser ersten schweren Zeit in Schweden oft von Zuhause, von der Straße, in der er aufgewachsen war, von den Freunden der Kindheit. Fern ist er auch von einer neuen Liebe in den USA. Der Kulturschock und die Sehnsucht provozieren innere Spannungen und ungeahnte Energien in ihm, führen zu einer kreativen Suche nach der eigenen Identität als Künstler, zu einer ersten Ahnung von einem eigenen Stil. Beim Improvisieren begegnen sich sein neuer, klassischer Sound und die Melodien seiner Heimat. Es entsteht etwas Magisches.
Blago J: „Ich spielte traurige Musik, um der Welt zu sagen, wie ich mich fühlte. Gleichzeitig bemerkte ich, wie diese mir half, mich besser zu fühlen. Dabei wurde mir klar: Der Komponist dieser traurigen Musik versteht meine Gefühle! Nun, in diesem Fall war ich selbst sowohl Komponist als auch Zuhörer! Ich habe gespielt, um jemanden zu sagen, wie ich mich fühlte, und gleichzeitig lauschte ich meiner eigenen Musik.“
Ab 2008 zieht es ihn für mehrere Jahre in die USA. Zum Überleben spielt er auf Hochzeiten, meist in der Autostadt Detroit und in Kanada, wo viele ausgewanderte Mazedonier leben. Zugleich findet er im klassischen Kontext Anschluss zu Gastspielen nach Japan und China. Zu seinen Lehrern gehören nun neben Elsa Ludewig-Verdehr von der Michigan State University zwei weitere Berühmtheiten der Klarinettenwelt: Ein Jahr studiert er bei Larry Combs, dem langjährigen Solo-Klarinettisten des Chicago Symphonieorchesters. In den folgenden zwei Jahren bei dessen ebenfalls sehr erfahrenen Kollegen John Bruce Yeh, der in dieser Zeit den größten Einfluss auf ihn hat. John versucht, sein Spiel immer sauberer und perfekter zu machen. Und Blagoj lernt von ihm, wie er beim Spielen auf der Bühne wirklich Spaß haben kann, statt gestresst zu sein.
Hin zu einem eigenen Stil
Zurück in Schweden lebt und arbeitet er seit 2014 als freischaffender Künstler, spielt regelmäßig für die Malmö Opera, aber auch für das Symphonie Orchester in Helsingör, das Stockholm City Theater sowie Cirkus Cirkör u.a. Er entwickelt seinen eigenen Stil weiter. Bemerkt nun klarer, wie Volksmusik – die Chalgia, wie Originalinstrumente der Region, die Festivalmusik der späten 80er, frühen 90er, aber auch Muster der ex-jugoslawischen Rock- und Popszene dieser Zeit auf ganz andere Weise interpretierbar sind. Er probiert sich aus. Besucht Konzerte schwedischer Künstler, um sich inspirieren zu lassen. Um besser zu verstehen, wie eine einfache Melodie auf ganz poetische Weise gespielt werden, dabei eine große Energie erzeugen und zugleich magisch wirken kann. Das alles braucht viel Zeit. Manchmal fehlt die Stimmung, um Gefühle in Musik zu verwandeln. Besondere Filmszenen sollen helfen, auch Liebeslyrik von Kocho Racin bzw. Aleksandar Sashko Kukulew…
Blago J: „Ich wäre jedoch nicht in der Lage gewesen, meine Gefühle durch die Klarinette auszudrücken, wenn ich nicht inzwischen diesen starken Bezug zur klassischen Musik gehabt hätte. Die Magie geschah also, als ich plötzlich anfing, mazedonische Volkslieder zu interpretieren, aber im Stile der klassischen deutschen Klarinette. Ich versuchte in meinem Kopf zu hören, wie z.B. Pavarotti dasselbe mazedonische Volkslied singen würde. Auf tiefe, poetische Weise, voller ehrlicher Gefühle, aus dem Herzen.
So eröffnet sich ihm der ganze „Himmel“. Er kann sich plötzlich ausdrücken, wie ein Opernsänger, ein Dichter. Und überwindet damit die Tragik von Tale Ognenovski, der zwar die schwer miteinander harmonierenden Klangwelten Europas und des Orients näher zusammenführt. Darin ist er revolutionär, noch immer hochgeschätzt, seine Spielweise bis heute oft unerreicht. Allerdings sah er nicht, dass er Stücke wie Mozarts Klarinettenkonzert nicht einfach in seinem Stil hätte spielen sollen. Es wäre besser gewesen, er hätte es nie getan. Klassische Musik hat eben ihre eigenen Gesetze. Blagoj hingegen darf in seiner Ausbildung beiden Stilen intensiv begegnen. So gelingt ihm, sie auf eine außergewöhnliche Weise zu verknüpfen, die Hörern verschiedener Kulturkreise sehr gut zugänglich erscheint. Er versucht, sich dem Zuhörer bedingungslos zu öffnen und ihm mit seiner Klarinette tiefe, berührende Geschichten zu erzählen. Seine Songs fliegen – verwoben mit dem Schatz mazedonischer Klangmuster – in die weite Welt. Dies schafft überall, wo er spielt, eine innige Verbindung zwischen seiner Musik, dem Publikum und ihm selbst, die er auf der Bühne deutlich spürt.
Heimat eines Brückenbauers
Schweden mögen die Energie der Balkanländer, sind offen für deren Mentalität. Für Mazedonier hingegen liefert sein heutiger Stil eine neue Dimension des Klarinettensounds. Niemand spielt so in dieser Region. Seine Musik ähnelt eher dem Versuch der Roma, trotz aller Widrigkeiten – oder gerade deshalb – die Seele in ihrer Musik zu bewahren, um für ein paar Momente aus der materiell dominierten Welt voller Entbehrungen, Zwänge und Konflikte in eine andere, bessere Wirklichkeit zu entfliehen. Einige Landsleute, die die Klarinette, wie sie ihnen bisher dargeboten wurde, nie wirklich genießen konnten, hören jetzt seine Musik – tagträumend – im Alltag. Sie schlafen ein oder wachen damit auf, werden vielleicht beeinflusst in dem, was sie tun, wie sie miteinander kommunizieren.
Sicher spüren auch sie ein Verlangen nach einer besinnlicheren Welt. Ist die oft seelenlose Hektik des etablierten Klarinettenspiels eine Reflektion der sozialen, politischen Hektik im Land? Klarinettenschüler und -studenten seiner alten Heimat lernen von seinem Album, schreiben ihm, dass sie auch gern so spielen würden. So kann er seinen Landsleuten etwas von dem zurückgeben, was er von ihnen in die Welt mitgenommen hat, und auch von dem, was er dadurch in der Welt lernen durfte. Dabei wird beides in einem einzigen Lied vereint.
So könnte seine Musik zur Botschafterin, Mediatorin werden, die nicht nur feinfühlig stimuliert, sondern die erzeugten Emotionen für ein gegenseitig besseres Verständnis vermittelt. Und er trifft damit überall auf Menschen, die sich nun auf eine eher unbeschreibliche Weise besser als Teil von etwas Größerem empfinden können. Weil ihre eigenen Melodien in einer echten „Weltmusik“ verschmelzen, welche nicht nur sprachliche Grenzen zu sprengen vermag, ozeanisch auflöst: Zu einem neuen Raum der Möglichkeiten, der Fülle, der freien Assoziationen, mit einem scheinbar unendlichen kreativen Potenzial für Veränderungen im Großen und Kleinen zugleich.
Ein Auszug aus seinem Debüt-Album „Nostalgic Love“, gemeinsam interpretiert mit dem Norrköping Symphony Orchestra, verbreitet sich kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie wie ein Lauffeuer unter seinen Landsleuten. Die Frage nach der Verortung seiner Heimat wird dadurch für ihn nicht einfacher:
Blago J: „Ich liebe jeden Moment des Albums, sogar jeden kleinen Fehler, den ich gemacht habe. Aber am meisten mag ich ‚Two happy Squirrels‘, (Original: ‚Serbez Donka‘), weil es ein traditionelles Lied aus meiner Heimatstadt Veles ist. Es liegt mir noch mehr am Herzen, weil ich dieses Lied zum ersten Mal als Kind von meinem Vater und meinem älteren Bruder gehört habe. Jedes Mal, wenn ich es höre oder spiele, bringt es das Gefühl von Kindheit und Sorglosigkeit zurück, es malt mir ein vertrautes Bild von Veles vor meine Augen…“
Er vermisst die Konzerte in seiner Heimat, diese mazedonische Energie und Aufregung, die das Publikum zu erzeugen vermag. In Schweden begeistert ihn das große Einfühlungsvermögen der Menschen. Es gibt keine Ellenbogenmentalität, wie auf dem Balkan, wo jeder ums Überleben kämpfen muss. Wo Musikstudenten teuer bezahlte Unterrichtsstunden bei ihren Professoren nehmen müssen, um in ihrer Karriere besser voranzukommen. Das alles hat seine Kreativität in der Wahlheimat befördert. Vielleicht ist „Blago J“ ein Brückenbauer? Der türkische Name seines Geburtsortes Veles – „Köprü“ – bedeutete einst: „Brücke“. (Wikipedia) Vielleicht gibt es dort auch heute noch eine reiche Tradition an Brückenbauern, die mit ihrem schöpferischen Potenzial helfen könnten, die Gräben dieser Welt zu überwinden. Zumindest, wenn man ihnen die Chance dazu bietet, wie „Blago J“…
Jan Hüfner
Foto: Edna Strenja Jurcan
Quellen: Cartwright, G., Balkan-Blues und Blaskappellen – Unterwegs mit Gypsy-Musikern in Serbien, Makedonien, Rumänien und Bulgarien. 2008; https://de.wikipedia.org/wiki/Veles_(Nordmazedonien)