Eine Begegnung mit dem Philosophen Rudolf Eucken
Rudolf Eucken war ein am Übergang zum 20. Jahrhundert maßgeblicher und weit über Deutschland hinaus bekannter Philosoph. Der 1846 in Aurich (Ostfriesland) geborene Eucken wurde schon 1871 als ordentlicher Philosophieprofessor nach Basel berufen (er erhielt dort jene Professur, die Friedrich Nietzsche gegen sein Philologenlehramt eintauschen wollte); er wechselte 1874 nach Jena, wo er bis zu seinem Tode, am 15. September 1926, blieb. Im Jahr 1908 erhielt er den Nobelpreis für Literatur in Anerkennung des von ihm vertretenen Idealismus. Er ist bis heute der einzige deutsche Philosoph, dem diese Auszeichnung zuteil wurde.
Euckens öffentliche Wirkung fiel fast ausschließlich mit seiner dritten Schaffensperiode seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zusammen, in der er sich in eher populärphilosophischer Weise mit den geistigen Problemen seiner Zeit auseinandersetzte. Der mit der rasanten Industrialisierung verbundenen "starke(n) Veräußerlichung und Verflachung" im Rahmen einer fortschrittsgläubigen "Daseinswelt", einer "bloße(n) Arbeitskultur, die innerhalb ihrer Grenzen manches förderte und verbesserte, die aber bei ihren Erfolgen die Seele des Menschen vergaß", versuchte er eine neoidealistisch inspirierte "Tatwelt-Kultur" entgegenzusetzen. Diese sollte eine Festigung geistig-seelischer Innerlichkeit befördern, um der äußeren Entwicklung Orientierung und Sinn zu verleihen, um den Menschen zu befähigen, seine Schöpfungen danach zu beurteilen, ob sie lebensinndienlich sind oder nicht. Damit fand Euckens Idealismus Eingang in die moderne Zivilisationskritik.
Mehr als Zivilisationskritik
Doch ging es Eucken um mehr als reine Zivilisationskritik. Sein philosophisches System muss auch im Kontext der nachidealistischen Verselbständigung der Wissenschaften verstanden werden: als ein Versuch der Erneuerung der Philosophie, die wegen ihrer spekulativen Ausrichtung von den sich rasch entwickelnden positiven Fachwissenschaften nicht mehr als systematische Grundlage ihrer empirischen Forschung berücksichtigt wurde. Soweit man der Philosophie überhaupt noch Aufgaben zuwies, bestanden diese in rein formalen, konstruktivistischen wissenschaftstheoretischen Erörterungen; sich philosophisch mit Sinnfragen zu befassen, war hingegen obsolet geworden.
Dieser Reduktion der Philosophie stellte Eucken sich entgegen. Er ging vielmehr aus vom "Leben als einem einheitlichen Geistesleben". In der Geschichte allerdings manifestiert sich eine fundamentale Entzweiung: Zwei jeweils ganz einseitige geistige Strömungen stehen sich gegenüber, "die dahin zusammenwirken, den Charakter des Lebens zu schwächen und seine Kraft zu vermindern". Solche "Syntagmen" bestehen für ihn im "Intellektualismus" und im "Naturalismus"; sie sind sowohl im kulturphilosophischen als auch im erkenntnistheoretischen Sinne relevant. Bezogen auf seine Zeit stellten sie sich einerseits im Rationalismus der Aufklärung, später auch als Formalismus der neukantianischen Wissenschaftsphilosophie, andererseits als Positivismus bzw. Historismus in den geisteswissenschaftlichen Fachbereichen dar.
"Echte Wirklichkeit"
Nun kann es aber nicht darum gehen, beide als einseitig charakterisierte "Lebensbewegungen" einfach zu verwerfen, sondern es kommt darauf an, sie in einer bestimmten Weise zu vermitteln. Aufgabe der geschichtlichen Betrachtung ist es, "wesensbildend" die reale Wirklichkeit mit ihrem "Wirrwarr von Geschehnissen" zu einer "echten Wirklichkeit" im menschlichen Geistesleben zu verwandeln und damit als Bindeglied zwischen beiden zu fungieren. Wesensbildung als Aufgabe der Geschichte bedeutet, im rastlosen Strom "einen tieferen Grund, eine innere Ordnung der Dinge" zu finden, um Geschichte als Geistesgeschichte erfahrbar zu machen.
Diese Art von philosophischer Erschließung der Geschichte soll „Wandlungen im Wesen bewirken, die rechten Ziele und Wege ermitteln, neue Kräfte entbinden, eine Tatwelt gegenüber dem Dasein erringen“, um auf diese Weise auch das innere Wesen der Menschen fortzubilden. Durch die Anerkennung eines selbständigen Geisteslebens ist dem Menschen, "eine Erhebung über die Zeit und ein Wirken aus zeitloser Ordnung“ möglich. Kein Weg ist vorgegeben, allein der Kampf als geistige Auseinandersetzung mit der Zeit, versetzt uns nach Eucken in die Lage, in das geschichtliche Dasein eine bestimmte zeitlose Idee einzuprägen und somit "einen den Schwankungen unsres Daseins überlegenen Bestand und Wert" zu erreichen, der auch "Fortschritt" ermöglicht. So wird es zur Aufgabe der Wissenschaft, "eine eigentümliche Behandlung geschichtlicher Erscheinungen (zu) entwickeln, die am Zeitlichen das Bleibende, am Einzelnen das Ganze sieht und sucht".
"Echter Rationalismus"
Um solche Philosophie theoretisch fundieren zu können, bedarf es eines besonderen Erkenntnisverfahrens. Rudolf Eucken gehörte zu jenen Philosophen, die die "Einheit von Erkenntnisproblem und Lebensproblem postuliert und mit der Frage nach dem Sinn des Lebens kombiniert" haben (Fellmann). Der im "Leben" selbst begründete, "wahre" Rationalismus, der darauf zielt, den Gegensatz von empiristischer und konstruktivistischer Denkweise zu überwinden, führt zu einer neuen Verschmelzung von Wirklichkeit und Denken.
Zur Herausarbeitung der "Syntagmen" bedient sich Eucken einer von ihm selbst entwickelten "noologischen Methode". "Sie soll der Vergegenwärtigung der großen geschichtlichen Tatbestände im Bewusstsein des Einzelnen dienen, eine Erkenntnis, die sich nicht in bloß formalen Begriffsbestimmungen bewegt, sondern durch ein verstehendes Einleben gewonnen wird." (M. Wundt).
Damit wird "Erlebnissubjektivität" zum theoretischen Problem. Eucken versucht, die positivistische Reduktionslehre idealistisch umzudeuten, indem er den vom deutschen Idealismus übernommenen Begriff des "Geistes" in einen "bewußtseinstheoretischen Strukturbegriff" (Fellmann) umwandelt. Es geht darum, in den als unmittelbar evident anerkannten Bewusstseinsinhalten solche logischen Strukturen freizulegen, die als sinnhafter Zusammenhang des Gegebenen erfassbar sind. An die Stelle rein empiristischer Anschauung tritt eine Methode, die aus dem Einzelnen das Allgemeine "heraussieht". Solche "Syntagmen" interpretierte Eucken als idealtypische Lebenssysteme von je besonderer Art.
Irritation und Anerkennung
Die theoretischen Leistungen Euckens waren lange Zeit überdeckt von seinem späteren - ungeheuer erfolgreichen - populärphilosophischen Engagement, zu dem auch kriegsphilosophische Exkurse im Rahmen einer "Deutschtumsmetaphysik" (Lübbe) gehörten. Allerdings ginge man doch fehl in der Annahme, hier läge nur ein primitiver Chauvinismus vor. Eucken war ernsthaft bemüht, Auswege aus der gesellschaftlich-politischen Zerrissenheit Deutschlands aufzuweisen. Und in diesem Zusammenhang verstieg er sich auch zur These von der Überlegenheit der deutschen Seele gegenüber dem westlich geprägten Liberalismus. Dennoch: Der weltoffene und freiheitliche Geist des Hauses Eucken war allgemein bekannt.
Eine wichtige wissenschaftliche Anerkennung erfuhr Eucken 1916 durch Edmund Husserl, der dessen "Philosophie des Geisteslebens" als einen seiner "Phänomenologie" komplementären Weg erachtete, "um das ursprüngliche, alle Erfahrungswelt konstituierende Leben zu entdecken". Husserl übernahm jedoch nicht die Euckensche Theorie, auch wenn ein gewisser Einfluß bestand. Beide Ansätze sind vielmehr als ähnliche Reaktionen auf die Situation der Erkenntnistheorie - und allgemeiner, der Wissenschaft - am Ende des 19. Jahrhunderts zu verstehen.
Philosophische Ökonomie
Für nationalökonomisch interessierte Leser sei noch darauf hingewiesen, dass der Sohn des Philosophen, Walter Eucken, später als führender Kopf der ordoliberalen Schule - nicht nur mit den von ihm postulierten Prinzipien für eine "freiheitliche Wirtschaftsordnung" Berühmtheit erlangte. Er unternahm auch den wohl gelungensten Versuch, die "große Antinomie" in der ökonomischen Wissenschaft zu überwinden, als sich historische und rationale Methode vor dem Hintergrund der neukantianischen Wissenschaftssystematik in einem Methodenstreit gegenüberstanden. Wenn Walter Eucken zur Lösung dieses Methodenproblems in der Ökonomie auf die Husserlsche Phänomenologie und ihren (ja keineswegs unumstrittenen) Wahrheitsbegriff zurückgriff, so wird daran deutlich, dass für die Theoriebildung Walter Euckens die Philosophie seines Vaters mit ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen von nicht unerheblichem Einfluss gewesen ist.
Jan Hüfner