Silvester markiert einen besonderen Schwellenmoment zwischen den Jahren. In solchen Übergängen wird spürbar, wie Vergangenes und Zukünftiges miteinander verflochten erscheinen - ein Phänomen, das Walter Benjamin in den Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts entdeckte.
Diese gläsernen Galerien waren für ihn mehr als architektonische Innovationen: Sie wurden zu Traumwelten, in denen die Menschen wie in einem kollektiven Rausch wandelten. Die Passagen lockten mit glitzernden Schaufenstern und dem Versprechen einer besseren (Konsum-) Welt - eine Form der kommerziellen Verführung, die heute noch in digitalen Räumen ihre Fortsetzung findet.
Sehr interessant erscheint auch Benjamins Perspektive auf die Panoramen jener Zeit - dieser gigantischen Rundgemälde, die als eine Art "Virtual Reality des 19. Jahrhunderts" ihre Betrachter in täuschend echte, teils gar dynamische 360-Grad-Welten entführten. Später entstanden die ersten Planetarien, die den Blick nach oben, in die Weiten des Kosmos öffneten. Beide vereint der Versuch, durch Technik neue Perspektiven zu erschließen - horizontal in die Weite der Stadt, bald der Landschaft, probagandistisch auch des Krieges, vertikal in die Tiefen des Weltalls.
Die Panoramen waren dabei nicht bloße Unterhaltung. Sie markierten für ihn eine "Umwälzung im Verhältnis der Kunst zur Technik". Ihre Macher versuchten durch immer ausgefeiltere technische Kunstgriffe eine "vollkommene Naturnachahmung" zu erreichen. Interessanterweise sah er darin auch den Versuch der Städter, "das Land in die Stadt" zu holen, nach dem die Städte begonnen hatten, das Land zu dominieren: Eine besondere Auseinandersetzung mit der (ambivalenten) Mensch-Natur-Beziehung, die sich auf andere Weise später in den Planetarien fortsetzte.
Digitale Metamorphosen
Heute erleben wir eine neue Generation von Schwellenräumen. Das Metaversum erscheint dabei nur als derzeit radikalster Versuch, die Verführungskraft der historischen Passagen und Panoramen ins Digitale zu übertragen. Hinzu kommen weitere subtile Formen der digitalen Ablenkung und Betäubung zwischen Social-Media-Feeds und algorithmisch optimierten Entertainment-Plattformen.
Im Resonanz-Labor entwickeln wir bewusst gestaltete Alternativen. Wir wollen die horizontale Perspektive der Panoramen mit der vertikalen des Planetariums zu einem multidimensionalen Erfahrungsraum verbinden. Anders als virtuell-immersive Ersatzwelten fokussieren wir auf Werkzeuge, um reale Fragestellungen sinnlich, kritisch, kreativ und gemeinschaftlich zu bearbeiten.
Statt perfekter Naturnachahmung geht es darum, verborgene Verbindungen erfahrbar zu machen. Wie frühe Fotografen, die erstmals die Pariser Kanalisation dokumentierten, wollen wir mit neuen technischen Mitteln bisher unzugängliche Perspektiven von lokalen Energie-, globalen CO2-Kreisläufen bis hin zu komplexen bio-sozio-technischen Wechselwirkungen erkunden.
Von der Illusion zur Bewusstwerdung zur Transformation
In unseren Räumen sollen Zusammenhänge nicht nur dynamisch simuliert, sondern auch kreativ verändert werden - wie in einem wissenschaftlichen Experiment. Die Visualisierungen zeigen, wie unsere Entscheidungen auf lokaler Ebene (z.B. persönlicher Energieverbrauch) mit lokalen bis globalen Konsequenzen verknüpft sind. Oder umgekehrt. Diese Räume dienen nicht der Ablenkung, sondern der Bewusstmachung: Sie eröffnen einen sinnlichen, motivierenden, gewohnte Denk- und Handlungsmuster aufbrechenden Zugang zu komplexen Themen wie Klimawandel, Ressourcennutzung oder biokratischem Miteinander.
Kunst, Technologie und Wissenschaft verbinden sich zu einem multisensorischen Erfahrungsraum, der dazu einlädt, die Beziehung zwischen Mensch und Mitwelt neu zu denken. Diese Form der Immersion zielt nicht auf Fluchtwelten oder Konsum, sondern auf Erkenntnis und Handlungsfähigkeit. Sie verbindet künstlerische Vision mit wissenschaftlicher Präzision und technologischer Innovation zu einem neuen Format des gemeinsamen Lernens und Gestaltens.
Experimentierräume für eine nachhaltige Zukunft
Die großen Herausforderungen unserer Zeit - von der Klimakrise bis zum gesellschaftlichen Zusammenhalt - brauchen solche Experimentierräume. Räume, in denen verschiedene Perspektiven und Wissensformen zusammenfinden können. Denn eines ist klar: Echte Transformation entsteht nicht in isolierten virtuellen Welten, sondern dort, wo Menschen gemeinsam neue Möglichkeiten erkunden und erproben.
Die Schwelle ist dabei weniger eine magische Grenze als ein produktiver Zwischenraum. Er lädt ein zum Perspektivwechsel, zum Querdenken, zum gemeinsamen Gestalten. In diesem Sinne: Willkommen im Schwellenraum als Übergang zu einem neuen, hoffentlich nachhaltigeren und friedlichen Jahr 2025!
Jan Hüfner